Im Verlauf des Projekts erwies sich das Recherchieren selbst als eine gebrochene Fertigkeit, als eine weitere Dimension des Themas Gebrochenheit. Mir wurden die Stolperfallen einer Politik der Mediation bewusst: Wer spricht über wen? Und wie? Was ist, wenn diese Artikulation einen weiteren Bruch bei denen auslöst, über die gesprochen wird? Auf welcher Grundlage wird das Gespräch geführt, mit welchem Wissen und Recherchematerial? Und was geschieht, wenn dieses nur in einer Sprache verfügbar ist, die die Recherchierenden nicht verstehen, in der sie selbst nicht lesen und schreiben können? Ist die Recherche dann nicht ebenfalls von Wissenslücken, von fehlenden Stücken und Unvollständigkeiten geprägt? Was lösen die Lückenhaftigkeit der Recherchierenden, ihr Nichtwissen und ihre Sprachlosigkeit aus? Wessen Verletzlichkeiten stehen auf dem Spiel?
Ich war überzeugt: Damit ein Mensch im Namen seiner selbst sprechen kann, braucht es sich selbst regierende Räume und eine Politik der Anerkennung des Menschen. Und ich überlegte: In der Praxis des Kintsugi geht ein*e Reparateur*in den Bruchstellen nach, mit denen es sich auseinanderzusetzen gilt. Mit anderen Worten: Nicht der Mensch, der repariert, entscheidet, was geflickt werden muss. Kann man bei der Recherche ebenso verfahren?
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Vier verschiedene Arten der Kintsugi-Reparatur sind zu unterscheiden: Kin-tsugi, mit Silber flicken; Gin-tsugi, mit Gold flicken; Yobi-tsugi, mit einem ‚ausgesuchten‘oder ‚entliehenen‘ Stück flicken – also mit einem Stück eines anderen Gegenstands; und das in der Begriffsbildung auf den Freund verweisende Tomo-tsugi, bei dem Originalteile eingefügt werden und die Reparatur nicht mehr sichtbar bleibt.
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Mehrere Jahre nachdem ich die Abu-Ghuraib-Bilder zum ersten Mal gesehen hatte, bat man mich in Beirut, ein großes, wertvolles antikes Gefäß zu reparieren, das – wortwörtlich – Zeuge eines Bruchs geworden war: Vor mir lag der ‚Begleitschaden‘eines Streits zwischen Geliebten, die beim Auseinanderbrechen in Eile das Haus verließen, augenblicklich und ohne Achtsamkeit für die Dinge, die sie umgaben. Ich war bewegt von dieser Geschichte und von den drei großen Bruchstücken, die es zuzuordnen, zusammenzufügen und zu flicken galt. Zwar wusste ich von Kintsugi, doch nichts über Vorgehensweise und Technik. Ich suchte den Rat erfahrener Reparateur*innen, unternahm mehrere Versuche und lernte aus der Ferne einen Menschen kennen, der später mein Lehrer werden sollte. Doch war ich nicht in der Lage, das Gefäß zu reparieren –
immer noch nicht gerüstet.
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Zu dieser Zeit stand ich selbst kurz vor einem Bruchpunkt, nachdem ich den gebrochenen Zustand eines mir nahen Menschen über lange Zeit begleitet hatte. Ich hatte miterlebt, wie er von einem Geisteszustand in den nächsten verfiel, aus großer Klarheit in völlige Intransparenz wechselte und in einen zermürbenden Strudel der Unsicherheit geriet. Wir wussten nicht mehr zu unterscheiden, was von dem Getanen und Gesagten wahr und was imaginiert war und wer wen brach, während sich Gewohntes, Halt und Zusammenhänge aufzulösen begannen. ‚Den Verstand verlieren‘ war ein emotionaler und geistiger Zustand der Verworrenheit, den ich bis dahin noch nie empfunden, erlebt oder miterlebt hatte. Ein Zustand, der ebenso real war, wie es die Zustände seiner Auswirkungen waren. Und noch immer fühlte ich mich
nicht gerüstet.
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Ein Jahr später brach ich nach Japan auf, um zu lernen, wie man zerbrochene Gegenstände mit Kintsugi repariert. Von jenem Lehrer, der mir in Beirut aus der Ferne zur Seite gestanden hatte.
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